Gedenkrede der Historikerin Dr. Margareth Lun anlässlich der Sepp-Kerschbaumer-Gedenkfeier

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st.pauls.gedenkrede.8.12.2011.jpgLiebe Tiroler und Tirolerinnen, verehrte Anwesende aus nah und fern! 50 Jahre sind seit der Feuernacht vergangen. 50 Jahre ist es her, dass engagierte, mutige, vielleicht auch wagemutige Menschen in ganz Südtirol Masten gesprengt – und damit Geschichte geschrieben haben. Ja, wer konnte damals schon ahnen, mit welch unglaublichen, ja übermenschlichen persönlichen Opfern dieser Freiheitskampf letztendlich verbunden sein würde. Einige bezahlten diesen Kampf sogar mit ihrem Leben.

Aber was ist es genau, was unsere Freiheitskämpfer von anderen
Untergrundgruppen unterscheidet? Von den Terroristen in anderen Teilen
Europas, die zur selben Zeit aktiv waren? Warum sehen wir „unsere“
Männer und Frauen in einem so anderen Licht?
Ist es nur der Umstand, dass sie für unsere Heimat gekämpft haben, für
unsere Zukunft? Ist es die Faszination, dass sie sich aus dem Schatten
der vermeintlichen Sicherheit herausgewagt haben? Weil sie eben
durchschaut haben, dass es keine Sicherheit war, sondern womöglich ihr
Untergang?

Nein, das allein ist es nicht. Denn es gibt einen wesentlichen Unterschied: 
Im Gegensatz zu den Brigate Rosse oder zur RAF ging es „unseren“
Freiheitskämpfern nie darum, die Rechtsstaatlichkeit an sich
anzugreifen. Unsere Freiheitskämpfer lassen sich nicht in ein
Rechts-Links-Schema pressen, sondern sie haben rein patriotische Ziele
verfolgt. Den Freiheitskämpfern, die wir heute ehren, ging es um die
Würde. Um die Würde des Menschen und um die Grundwerte menschlichen
Seins, ihres Schutzes und ihrer Wahrung in unserer Heimat. Es ging ihnen
um Tirol.

Heute ist es wohl müßig, zu betonen, dass die Attentate einen
Dominoeffekt ausgelöst haben. Die Südtirol-Problematik musste
international offen gelegt und endgültig auch einer Lösung zugeführt
werden. Und spätestens seit dem Mailänder Prozess musste sich endlich
auch die italienische Öffentlichkeit damit auseinandersetzen. 

Aber gerade wenn man diese Ereignisse genauer analysiert, kommt man zu
einem verblüffenden Ergebnis: Damals hat das demokratische
Nachkriegsitalien genau denselben Fehler gemacht wie auch in den
folgenden Jahrzehnten immer wieder. Das Verhalten des demokratischen
Staates Italien gegenüber den Minderheiten war immer bedenklich, von
1919 über die heiße Zeit der fünfziger und sechziger Jahre bis ins 21.
Jh. 

Hätte es nämlich ernst genommen, was sich in Südtirol tut, hätte es auf
die Klagen und auf die kritischen Stimmen gehört, und hätte es zumindest
1957, unmittelbar nach der Kundgebung von Sigmundskron, eine gültige,
eine brauchbare Autonomie gewährt, dann wäre es wohl nicht zu dieser
Eskalation gekommen. Im Übrigen war es sogar Italien selbst, das
wohlgemerkt schon 1953 das Thema Selbstbestimmung aufs Tapet gebracht
hat, und zwar, als es die Selbstbestimmung für Triest forderte. 

Heute gibt es natürlich keine Gewaltanschläge mehr. Heute kommen andere
Mittel zum Zug, um den Willen des Volkes durchzusetzen. Aber es ist
schon bemerkenswert, wie leichtfertig der Staat immer noch über viele
Anliegen seiner Bürger, und vor allem über die seiner Minderheiten
hinweggeht. Gut, in die neue – wohlgemerkt nicht demokratisch gewählte –
Regierung aus Fachleuten wurden international große Hoffnungen gesetzt.
Aber sie ist im Augenblick wohl ausschließlich damit beschäftigt, den
Staat an einer wirtschaftlichen Katastrophe, am Staatsbankrott
vorbeizumanövrieren. Ob sie allerdings mit dieser rigiden,
undifferenzierten Sparpolitik dem Staat wirklich zu europäischer Reife
verhelfen kann, wage ich zu bezweifeln. Dazu gehört nämlich doch mehr
als allein die Wirtschaftsgebarung. 

Unsere Aufgabe ist es, den Blick nach vorne zu richten. Allerdings, und
das muss klar betont werden, ohne es zu versäumen, zuerst bei uns hier
aufräumen. Und dazu gehört auch, einen endgültigen Schlussstrich unter
den Faschismus zu ziehen und sich nicht nur halbherzig von den
faschistischen Relikten – von den Ortsnamen bis zu den einschlägigen
Bauwerken – zu trennen. Wir sind moralisch verpflichtet, endlich eine
dauerhafte, saubere Lösung zu finden, wo sich niemand eingeladen fühlt,
dem Faschismus zu huldigen, und wo nicht schon wieder italienische
Identität mit faschistischem Gedankengut vermischt wird. 

Was ist aus dem Bondi-Brief geworden, der im Jänner dieses Jahres
eingegangen ist? Bis dato ist er amtlich gültig. Aber will das Land
weiterhin Zeit ungenützt verstreichen lassen? So lange, bis er
zurückgerufen wird? Oder: Wer von unseren politischen
Entscheidungsträgern hat sich bisher getraut, etwas gegen den
Alpini-Aufmarsch zu tun, wo schon wieder Kränze niedergelegt werden vor
den faschistischen Relikten, wo wieder provoziert wird? Und das
sinnigerweise genau zum 90. Jahrtag des faschistischen Marsches auf
Bozen? 

Mit Aufräumen meine ich aber auch noch vieles andere. Ist es nicht
bedenklich, wie viel Zeit und Energie einige Politiker im Augenblick
dafür verwenden, Schadensbegrenzung für die eigenen Fehler zu betreiben?
Und dabei ablenkt von Versprechen, die nicht eingehalten wurden, und
von Problemen, die dringend zu lösen sind? Den eigenen pekuniären
Vorteil auf Kosten des Gemeinwohls in den Vordergrund zu stellen, das
entspricht nicht der Tiroler Wesensart, das entspricht nicht den Tiroler
Werten, und das ist unseres Landes unwürdig. 

Gerechte, bestmögliche Realpolitik ja, korrekte, verantwortungsvolle
Verwaltung, ja. Aber vor lauter Realpolitik fehlen mir oft die Visionen.
Was mir von unserer politischen Führungsschicht immer noch fehlt, das
sind konkrete Vorschläge, wie wir uns – Schritt für Schritt– aus diesem
maroden Staat lösen können. Es ist einfach nicht genug, wenn das Land
laut darüber nachdenkt, ob es gemeinsame mit anderen italienischen
Regionen eine Verfassungsklage einreichen soll, weil „hier in unsere
verbrieften Rechte, in die autonomen Zuständigkeiten eingegriffen wird“.

Das ist heute einfach zu wenig. Es ist an der Zeit, endlich Weichen zu
stellen. Und ich appelliere an die politischen Entscheidungsträger,
nicht nur in den Vorwahlzeiten um Stimmen zu werben, sondern auch auf
die Stimmen der Bevölkerung zu hören. 

Politiker sind gewählt, das Volk zu vertreten, und nicht, ein Hemmklotz
zu sein, wenn es darum geht, den Weg in die Zukunft zu beschreiten.
Bereits 1957, bei der Kundgebung auf Sigmundskron, hat die damals
einzige deutsche Partei nicht auf das Volk gehört, und die Diplomatie
als Vorwand vorgeschoben. Bis es zur Eskalation gekommen ist. 

Zeigen wir auf, dass wir mündige Bürger sind! Die Einhaltung von
Minderheitenrechten kann und darf nicht von Staates Gnaden abhängen.
Erst kürzlich hat der ehemalige österreichische Justizminister Harald
Ofner betont, dass das Recht auf Ausübung der Selbstbestimmung heute
nicht mehr mit Hochverrat geahndet werden darf, sondern dass es ein
selbstverständliches Recht in einem geeinten Europa ist.

Unser Anliegen ist es, unser Land, unsere Heimat weiterzubringen. Und
unser Weg muss ein gemeinsamer mit Nordtirol sein. Es gilt, diese
historische Chance zu nutzen. Denn Nibelungentreue, liebe Landsleute,
ist hier bei Gott fehl am Platze. Eine moralische Verpflichtung, mit dem
sinkenden Boot unterzugehen, gibt es weder aus historischen und schon
gar nicht aus realpolitischen Gründen.

Der große deutsche Philosoph Immanuel Kant hat einmal gesagt: „Der
Ziellose erleidet sein Schicksal – der Zielbewusste gestaltet es.“ 
Wir haben in unserem Land ein riesiges Potential – die besten
Voraussetzungen, unseren eigenen Weg zu gehen. Gehen wir’s also an!

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